I

Der Jesaja-Text

 

Millard Burrows, eine anerkannte Autorität in Bezug auf die Schriftrollen vom Toten Meer machte folgende Aussage bezüglich der Jesaja-Schriftrollen:

 

„Das erste prophetische Buch, Jesaja, war erwiesenermaßen, wie wir gesehen haben, das beliebteste in der Qumran-Gemeinschaft. Zusätzlich zu den beiden Rollen aus Höhle 1 gab es mehr oder weniger umfassende Fragmente von dreizehn weiteren aus Höhle 4. Wie die spätere und unvollständige Rolle aus Höhle 1, stimmen die Höhle-4-Fragmente eng mit dem masoretischen Text überein. Diese Demonstration der Altertümlichkeit unseres traditionellen Textes im Buch Jesaja ist weit mehr bedeutend in Hinblick auf die ganz anderen Anzeichen in anderen Büchern.

Die bei weitem interessantesten und nützlichsten aller Jesaja-Manuskripte für das Studium des Textes ist die vollständige St.-Markus-Jesaja-Rolle – wie sie aus Bequemlichkeit immer noch genannt werden mag, obwohl sie sich jetzt in Israel befindet. Sie bestätigt im Großen und Ganzen ebenfalls die Richtigkeit des masoretischen Textes (DSS. S. 304). Sie stellt aber eine beliebtere, weniger offizielle Form des Textes dar als die anderen Manuskripte. Sie wurde wahrscheinlich weniger sorgfältig geschrieben, und deshalb enthält sie einen größeren Anteil an Kopierfehlern, aber sie bewahrt auch eine Reihe von altertümlichen Lesarten, die in der orthodoxeren Tradition verloren gegangen waren.“ (More Light on The Dead Sea Scrolls, New York, 1958, S. 146)

 

Auf Seite 172 desselben Buches erklärt Millard Burrows, dass die St.-Markus-Rolle von Jesaja „den vollständigen Text des Buches in einem Manuskript liefert, das nicht viel nach 100 V. CHR. ALS SPÄTESTES DATUM datiert werden kann.“ Gleason L. Archer Jun. machte folgende Bemerkung über die Jesaja-Schriftrollen: “Obwohl die beiden Kopien von Jesaja, die 1947 in der Qumran-Höhle 1 in der Nähe des Toten Meeres entdeckt wurden, tausend Jahre älter waren als das älteste datierte Manuskript, das bisher bekannt war (980 n. Chr.), beweisen sie Wort für Wort, dass sie mit unserer hebräischen Standardbibel in mehr als 95 Prozent des Textes identisch sind. Die 5 Prozent Abweichung bestehen hauptsächlich aus offensichtlichen Schreibfehlern und Verschiedenheiten in der Rechtschreibung.“ (A Survey of Old Testament Introduction, Seite 19)

 

Bibelgelehrte haben einen Grund, sich über die Entdeckung der Manuskripte Jesajas zu freuen, die sich auf altertümliche Zeiten zurückdatieren lassen. Aber Mormonengelehrte sehen sich einem Dilemma gegenüber, da sie sich, obwohl diese Manuskripte den Text der Bibel unterstützen, als stärkste Beweise gegen Joseph Smiths „Inspirierte Revision“ der Bibel und seiner „Übersetzung“ des Textes Jesajas, die man im Buch Mormon findet, herausstellen könnten. Jahre lang haben Mormonengelehrte daran gearbeitet, zu beweisen, dass der Text Jesajas im Buch Mormon eigentlich eine Übersetzung einer altertümlichen Kopie Jesajas und deshalb höherwertiger als die Übersetzung ist, die man in der Bibel findet. Sie haben versucht, Parallelen zwischen dem Text Jesajas im Buch Mormon und dem Text in einigen alten Manuskripten aufzuzeigen. In unserem Buch Mormon Scriptures and the Bible, S. 9-11, zeigen wir, dass diese Parallelen von geringem Wert sind, da die Manuskripte zu Joseph Smiths Zeit bekannt waren und studiert wurden.

Wenn Mormonenschreiber Ähnlichkeiten zwischen dem Text des Buches Mormon und den Dokumenten, die in Joseph Smiths Tagen NICHT bekannt waren, finden konnten, so wäre diese Art von Beweis beeindruckend. Die Schriftrollen vom Toten Meer, zum Beispiel, sollten eine Menge Beweise für das Buch Mormon liefern, wenn es wirklich ein altertümlicher Bericht ist. Die Jesaja-Rolle, die in der Qumran-Höhle 1 gefunden wurde, hätte eine große Freude unter den Mormonengelehrten auslösen sollen, denn hier gibt es ein Manuskript von Jesaja, das Hunderte von Jahren älter ist, als jedes andere Manuskript, das man bisher kannte. Sicherlich, wenn das Buch Mormon wahr wäre, wäre dieses Manuskript mit Beweisen angefüllt, die den Text Jesajas im Buch Mormon unterstützten und somit bewiesen, dass Joseph Smith ein Prophet Gottes wäre. Anstatt aber das Buch Mormon zu bestätigen, kehrte sich alles zu einer großen Enttäuschung für die Mormonengelehrten. Lewis M. Rogers, der assistierender Professor der Religion an der Brigham-Young-Universität war, schrieb ein Papier mit dem Titel: „Die Bedeutung der Schriftrollen und ein Wort zur Vorsicht“. In diesem Artikel erklärte er:

 

„Man hat zur Kenntnis genommen, dass Abweichungen vom masoretischen Text in den neulich gefundenen Jesaja-Schriftrollen geringfügig waren, was auf eine treue Bewahrung der akzeptierten Heiligen Schrift hinweist. Abweichungen vom Standard waren aber in Fragmenten des Buches Samuel Aufsehen erregend, denn sie schienen eher dem griechischen oder der Septuaginta als dem masoretischen Text zu folgen...

 

Die Heiligen der Letzten Tage haben Grund, sich mit anderen Christen und Juden über das neue Licht und die frische Perspektive zu freuen, die ihnen durch die Schriftrollen vom Toten Meer gebracht wurden, aber gelegentlich müssen sie daran erinnert werden, dass ihre Hoffnungen und Emotionen sie angreifbar machen. Es ist gut möglich, dass die Ansprüche für das Buch Mormon und für die H.L.T.-Theologie als Folge dieser Entdeckung KEINE GROSSEN FORTSCHRITTE MACHEN WERDEN. (Progress in Archaeology, Brigham-Young-Universität, 1963, S. 46-47)

 

Wayne Ham schrieb 1961 seine Magisterarbeit für die Abteilung für Biblische Sprachen an der Brigham-Young-Universität. Er machte eine Studie, in der er die Jesaja-Rolle mit dem Buch Mormon verglich. Seine Arbeit trägt den Titel „A Textual Comparison of the Isaiah Passages in the Book of Mormon with the Same Passages in the St. Mark's Isaiah Scroll of the Dead Sea Community”. Nach diesem Studium war Mr. Ham zur Schlussfolgerung gezwungen, dass die Jesaja-Schriftrolle den Text im Buch Mormon NICHT unterstützt. In einem Artikel, 1970 im Courage veröffentlicht, erklärte er:

 

„In den Funden am Toten Meer befand sich eine vollständige Jesaja-Schriftrolle und eine unvollständige. Heilige der Letzten Tage waren voller Hoffnung, dass diese Jesaja-Schriftrollen einige unterstützende Beweise für das Buch Mormon bringen würden. Die Theorie war folgende: Die Sprache der Jesaja-Passagen im Buch Mormon ist die der King-James-Version mit einigen Abweichungen. Da die King-James-Version vom masoretischen, hebräischen Text (ein Text, der von jüdischen Gelehrten während der frühen Jahrhunderte der christlichen Ära entwickelt wurde) übersetzt worden war, nahmen einige Heilige der Letzten Tage an, dass die Abweichungen im Buch Mormon einen älteren, akkurateren Text als den masoretischen repräsentierten. Die Jesaja-Schriftrolle vom Toten Meer, die sich wahrscheinlich auf das zweite Jahrhundert v. Chr. datieren lässt, ist jetzt auf eintausend Jahre vor dem datiert, was früher als der älteste übrig gebliebene Text des Alten Testaments angesehen wurde.

Nach einer gründlichen Untersuchung der Sache, die in 'A Textual Comparison of the Isaiah Passages in the Book of Mormon with the Same Passages in the St. Mark's Isaiah Scroll of the Dead Sea Community', berichtet wird, fand dieser Schreiber KEINE ERWÄHNENSWERTEN BEISPIELE FÜR DEN ANSPRUCH DES BUCHES MORMON.“ (Courage, Bd. 1, Nr. 1, September 1970, Seite 20)

 

Der Mormonenapologet Dr. Sidney B. Sperry der Brigham-Young-Universität musste zugeben, dass die Schriftrollen vom Toten Meer der Sache für das Buch Mormon nicht dienlich sind:

 

„Nach sehr sorgfältigem Lesen der Schriftrollen komme ich zum Schluss, dass es auf ihnen keine einzige Zeile gibt, die ahnen lässt, dass ihre Schreiber das Evangelium kannten, so wie es von den Heiligen der Letzten Tage verstanden wird. Tatsächlich gibt es einige Passagen, die das Gegenteil zu beweisen scheinen…

Wir sollten insbesondere an dem Licht interessiert sein, das die Jesaja-Schriftrolle auf das Problem des Jesaja-Textes im Buch Mormon wirft. Ich habe in gewissen Einzelheiten den Text mit seinen Parallelen im Buch-Mormon-Text verglichen. Diese ermüdende Aufgabe hat offenbart, dass die Schriftrolle selten mit den Abweichungen des Buch-Mormon-Textes vom konventionellen masoretischen Text Jesajas und folglich mit der autorisierten Version übereinstimmt. Die Schlussfolgerung, zu der ich als Ergebnis dieser vergleichenden Studien komme, kann wie folgt niedergeschrieben werden:

  1. Trotz der vermuteten Altertümlichkeit der Schriftrolle ist ihr Text minderwertiger als der herkömmliche hebräische Text, der uns in der King-James-Version überliefert wurde.

  2. Wenn das Datum, das der Schriftrolle zugeschrieben wird, richtig ist, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass ernsthafte Änderungen im Text vor dem Kommen Christi stattfanden. Wenn mein Gedankengang richtig ist, dann würde aber die Bekundung Nephis in Bezug auf die Verdrehung der Schriften (1. Nephi 13:26) anregen, an die Wahrscheinlichkeit zu denken, dass die Jesaja-Rolle ein wenig zu früh datiert wurde – sagen wir um etwa 150 Jahre.

  3. Die Jesaja-Schriftrolle ist FÜR DIE HEILIGEN DER LETZTEN TAGE von relativ GERINGEM NUTZEN, DA SIE DIE ALTERTÜMLICHKEIT DES JESAJA-TEXTES IM BUCH MORMON ZEIGT

  4. Der Buch-Mormon-Text von Jesaja sollte uns davor warnen, dass die Verwendung der Jesaja-Schriftrollen von Qumran für textliche Kritik, für großes Misstrauen offen ist.

Was halte ich also dann in den Schriftrollen für wertvoll? Man sollte verstehen, dass sie für den Gelehrten in Bezug auf die hebräische Rechtschreibung, Grammatik und Paleographie von großem Wert sind. Die Schriftrollen trugen ohne Zweifel eine Menge zur Geschichte des Judaismus und des Christentums bei, und Spezialisten des Alten und Neuen Testaments befassen sich angemessenerweise sehr mit ihnen…

Aber neben dem technischen Wert für die Gelehrten, glaube ich, dass die Bedeutung der Schriftrollen in einem religiösen Sinn von bestimmten Gelehrten aufs höchste überbewertet worden ist. Ihre praktische Bedeutung ist für die Heiligen der Letzten Tage relativ gering. (Progress in Archaeology, S. 52-54)

 

Es ist interessant zu sehen, wie Dr. Sperry bei seinem Versuch, das Buch Mormon zu retten, die Jesaja-Schriftrolle schmälern muss.

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In diesem Kapitel geht es um die Haltung der Mormonen zur Bibel und um die von Joseph Smith revidierte "Inspirierte Version" der Bibel.
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